BVNL-Briefaktion 2023


Im Rahmen unserer Arbeit und im Kontakt mit Mitarbeitern in Behörden und im Bildungssystem tätigen Menschen stoßen wir häufig auf Unverständnis und bemerken, dass es große Missverständnisse und ein großes Informationsdefizit zu den Themen „Selbstbestimmte Bildung“ und „Natürlich lernen“ gibt.

Daraus entstand die Idee, eine Briefaktion zu starten, die uns als Ansprechpartner für diese Themen vorstellt und bereits erste Informationen zu den Rechten junger Menschen und unser Anliegen dazu mitteilt.

Die Bundeslandgruppe Bayern hat bereits im März gestartet und 220 Briefe verschickt!
Weitere Arbeitsgruppen recherchieren ihre Adressen ebenfalls und werden die Briefe demnächst versenden.

Diesen Text haben die Adressaten erhalten:

Sehr geehrter Name des Empfängers,

der Bundesverband Natürlich Lernen e.V. setzt sich seit über 20 Jahren für das Recht junger Menschen ein, sich selbstbestimmt zu bilden.

Ich wollte ja nichts als das zu leben versuchen, was von selber aus mir heraus wollte“
Hermann Hesse, Damian

Wir möchten Möglichkeiten aufzeigen, wie Selbstbestimmte Bildung und natürliches Lernen parallel zum bestehenden Schulsystem funktionieren können. Wir setzen uns für die gleichwertige und gleichberechtigte gesellschaftliche und politische Haltung den jungen Menschen gegenüber ein. Es geht uns unmittelbar um die jungen Menschen selbst, um deren Bildungsentscheidungen, die Wahrnehmung ihrer als Subjekt und die Umsetzung ihrer Rechte. Die Realisierung von freiheitlichen Grundrechten junger Menschen schließt Manipulation, Indoktrination, körperliche und psychische Gewalt und Entwürdigung in jeder Hinsicht aus. Die freie Wahl der Bildungsform ist ein zentraler Bestandteil demokratischer Prozesse.

Unsere Vision:

Wir setzen uns auf Basis der freiheitlich-demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland dafür ein, dass jeder Mensch seinen eigenen Bildungsweg frei wählen darf. Junge Menschen sind als vollwertige Menschen mit gleichen Grund- und Menschenrechten anzusehen. (siehe: Leitlinien des Bayerischen Bildungs- und Erziehungsplans). Die Selbstbestimmte Bildung außerhalb von Schulen könnte, neben den freien und den staatlichen Schulen, die dritte Säule eines dynamischen pluralistischen Bildungssystems sein, das jedem Menschen sein Recht auf lebenslange Bildung garantiert. Wir vom BVNL e.V. sind der Auffassung, dass ein junger Mensch in einem vielschichtigen Umfeld aufwachsen, teilhaben, agieren und so von Anfang an gelebte Demokratie, Selbstwirksamkeit und Selbstbestimmtheit am eigenen Leib erfahren darf. Dafür braucht es eine von Inklusion geprägte Gesellschaft, in der jeder Mensch ganz natürlich dazugehört und seinen gewünschten Bildungsprozess aktiv mitgestalten darf. Die Wahl der Bildungsform ist ein unabdingbarer Bestandteil einer Demokratie.

Wir erinnern an dieser Stelle an die UN Generalversammlung, hier die 
Umsetzung der UN-Resolution 60/251 „Menschenrechtsrat“ vom 15. März 2006 und an den Artikel 13 des UN-Sozialpakts.

Ist diese Vision utopisch?

In den allermeisten Staaten dieser Welt gibt es legale Bildungsformen fernab des verpflichtenden Schulbesuchs. Hier leben und lernen viele Menschen jeden Alters durch verschiedene Bildungssettings. Heranwachsende lernen mit Begeisterung und aus eigenem Antrieb. Sie entdecken auf Grund ihres eigenen Interesses, aus eigener Neugier, auf ihre eigene Art, nach eigener Geschwindigkeit, an den von ihnen selbst gewählten Orten und mit selbst gewählten Partnern ihre Umwelt und entwickeln dabei ihre fachlichen und sozialen Kompetenzen. Unsere Vision ist nicht utopisch, sie ist, mit ganz wenigen Ausnahmen, in allen Ländern dieser Welt gelungener Alltag.

Und die fachlichen Kompetenzen?

Langjährige Erfahrungen und zahlreiche wissenschaftliche Studien in diesen Staaten zeigen, dass diese natürliche Art der Bildung ohne Zwangsausübung und ohne Schulbesuch gelingt. Junge Menschen, die außerhalb der Schule lernen, erreichen bei standardisierten Tests überwiegend bessere fachliche Ergebnisse als junge Menschen, die in der Schule lernen. Dies lässt sich u.a. auch an ihren Leistungen und Abschlüssen an Hochschulen erkennen.

(Siehe Günther Dohmen, Das informelle Lernen – Die internationale Erschließung einer bisher vernachlässigten Grundform menschlichen Lernens für das lebenslange Lernen aller, Bundesministerium für Bildung und Forschung, Bonn, 2001 und Alan Thomas & Harriet Pattison, Informelles Lernen – Wie Kinder zu Hause lernen, 2016)

Wie sieht es bei der Sozialkompetenz aus?

In wissenschaftlichen Studien wurde festgestellt, dass hinsichtlich des Sozialverhaltens und der sozialen Entwicklung von außerschulisch lernenden jungen Menschen keinerlei negative Auffälligkeiten im Vergleich zu schulbesuchenden jungen Menschen festgestellt werden konnten.

(Siehe Gutachterliche Stellungnahme, Prof. Dr. Franco Rest, Professor für Erziehungswissenschaften am Fachbereich Angewandte Sozialwissenschaften der FH-University of applied sciences and arts, Dortmund, 2009 und Jan Edel, Schulfreie Bildung, Über die Vernachlässigung schulfreier Bildungskonzepte in Deutschland, 2007 und Thomaschke, R., 2018: Selbstbestimmte Bildung: Eine empirisch psychologische Perspektive. In M. Kern (Hrsg.): Selbstbestimmte Bildungswege als Kindeswohlgefährdung? tologo verlag, Leipzig)

Und wie sieht die Realität in Bayern aus?

Mittels der bestehenden Schulpflicht, die in Bayern als Schulzwang ausformuliert und umgesetzt ist, werden junge Menschen überwiegend als Objekte behandelt und nicht als Subjekte anerkannt. Es wird sich über ihren eigenen Willen, ihr Selbstbestimmungsrecht, ihre Vorstellungen und ihre freiheitlichen Rechte immer noch in einer von Adultismus geprägten Weise hinweggesetzt, ohne ihnen ihre Rechte vollumfänglich zu gewähren.

Junge Menschen in Bayern, die sich selbstbestimmt und frei bilden wollen, berufen sich auf das Grundgesetz (Art. 1 GG und Art 2 GG), das Bürgerliche Gesetzbuch (§1631 BGB Recht auf gewaltfreie Erziehung), auf Internationale Konventionen zum Schutz der Rechte von Kindern und auf die Menschenrechte (Artikel 13 des UN-Sozialpakts und EU Charta der Grundrechte der Europäischen Union Artikel 14 – Recht auf Bildung).

§1631 BGB Recht auf gewaltfreie Erziehung

(2) Das Kind hat ein Recht auf Pflege und Erziehung unter Ausschluss von Gewalt, körperlichen Bestrafungen, seelischen Verletzungen und anderen entwürdigenden Maßnahmen.

Artikel 13 des UN-Sozialpakts:

(1) Die Vertragsstaaten erkennen das Recht eines jeden auf Bildung an. Sie stimmen überein, dass die Bildung auf die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und des Bewusstseins ihrer Würde gerichtet sein und die Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten stärken muss.

Die Argumentationen werden jedoch von Verwaltungsbehörden und Gerichten übergangen, die Familien finanziell bestraft oder ihnen mit dem Entzug des Sorgerechts gedroht. Statt die individuell von den jungen Menschen gewählten Bildungswege anzuerkennen und zeitgemäße Möglichkeiten zu schaffen, werden den jungen Menschen Verhaltensauffälligkeiten diagnostiziert, oder ihnen Schulverweigerung, Schulangst oder Faulheit vorgeworfen. Ihr grundrechtlich geschütztes Recht auf Selbstbestimmung und ihr Streben nach Autonomie (fehlende Bereitschaft zur Unterwerfung) wird als Ungehorsam/Verhaltensauffälligkeit wahrgenommen oder sogar als psychische Krankheit eingeordnet.

Aus unserer Sicht stellt es einen nicht akzeptablen Zustand dar, dass Mütter und Väter kriminalisiert werden, die lediglich die Rechte und den Willen ihrer Töchter und Söhne respektieren und sie in ihrer Persönlichkeit achten.

Was ist zu tun?

Es ist sicherzustellen, dass junge Menschen, die sich außerschulisch bilden, sowie deren Familien nicht kriminalisiert und in ihren Rechten eingeschränkt und bestraft, sondern stattdessen hinsichtlich ihrer individuellen Wahl des Bildungswegs auch von staatlicher Seite unterstützt werden.

Möglichkeiten der Unterstützung von staatlicher Seite wären beispielsweise:

  • Demokratische Prozesse anzustoßen, die eine außerschulische Bildung ermöglichen.

  • Ins Schulgesetz auch außerschulische bzw. informelle Bildungsmöglichkeiten aufzunehmen.

  • Streichung der Absätze zur Schulpflicht/des Schulzwangs aus dem bayerischen Schulgesetz.

  • Etablierung eines pluralistischen und zeitgemäßen Bildungssystems mit Legalisierung außerschulischer Bildungsmöglichkeiten.

Gern treten wir mit Ihnen in den Dialog und suchen gemeinsam nach Möglichkeiten, die Situation der jungen Menschen, die sich selbstbestimmt bilden möchten, und ihrer Familien zu entkriminalisieren. Über einen Terminvorschlag per Mail an freilerner.bayern@bvnl.de freuen wir uns sehr.

Sie sehen im Anhang eine Literaturliste, welche wir Ihnen und Ihren Kolleginnen und Kollegen ans Herz legen, um sich mit alternativen Bildungsformen, informellem Lernen und selbstbestimmter Bildung auseinanderzusetzen. Es freut uns, wenn diese Literaturliste zum Austausch über unser Anliegen anregt.

Mit freundlichen Grüßen

Lernen ist Leben! Bundesverband Natürlich Lernen e.V. / Aktivgruppe Bayern

Literaturempfehlungen:

  • Olivier Keller, Denn mein Leben ist Lernen – Wie Kinder aus eigenem Antrieb die Welt erforschen, 1999 & Neuauflage 2023
  • Ron Miller, Creating Learning Communities: Models, Resources, and New Ways of Thinking
  • About Teaching and Learning, 2000
  • Günther Dohmen, Das informelle Lernen – Die internationale Erschließung einer bisher vernachlässigten Grundform menschlichen Lernens für das lebenslange Lernen aller, Bundesministerium für Bildung und Forschung, Bonn, 2001 | https://ams-forschungsnetzwerk.at/downloadpub/das_informelle_lernen.pdf
  • Stefanie Mohsennia, Schulfrei: Lernen ohne Grenzen, 2004
  • Tony Jeffs und Mark K. Smith, Informal Education: Conversation, Democracy and Learning, 2005
  • Jan Edel, Schulfreie Bildung, Über die Vernachlässigung schulfreier Bildungskonzepte in

    Deutschland, 2007

  • Mark Webster, Personalised Learning. 2008
  • Anke Caspar-Jürgens, Lernen ist Leben – Die Familienschule: Wie Schule sein könnte, wenn das Lernen frei wäre, 2012
  • Hüther, Gerald & Hauser, Jedes Kind ist hochbegabt, 2014
  • Clara Bellar, Being and Becoming, DVD OmU, 2014 | http://www.etreetdevenir.com
  • Peter Gray, Befreit Lernen – Wie Lernen in Freiheit spielend gelingt, 2015
  • Alan Thomas & Harriet Pattison, Informelles Lernen – Wie Kinder zu Hause lernen, 2016
  • Franz Reimer, Schulpflicht für alle – Zweck oder Mittel? Der verfassungsrechtliche Rahmen für schulische Bildung und Chancen(un)gleichheit vor und nach der Pandemie, 2021 | https://www.pedocs.de/volltexte/2022/23882/pdf/DDS_2021_4_Reimer_Schulpflicht_fuer_alle.pdf
  • http://homeschooling-forschung.de/Material/Buchinfo%20Spiegler%20HE%20in%20D.pdf

Weitere Informationen zum BVNL e.V. unter: https://bvnl.de/