Pressemitteilung zum Internationalen Tag der Bildungsfreiheit 15. September 2023


15.09.2023 

Heute ist der Internationale Tag der Bildungsfreiheit und auch der Internationale Tag der Demokratie.

Demokratie ermöglicht Partizipation, Selbstbestimmung und Verantwortung, Chancengerechtigkeit, Meinungsfreiheit und Vielfalt. Dasselbe fordern wir ebenso für unser Bildungssystem und für junge Menschen.


Pressemitteilung zum Internationalen Tag der Bildungsfreiheit am 15. September 2023

Immer mehr junge Menschen möchten sich außerschulisch und selbstbestimmt bilden. Nicht unwesentlich für diese Entscheidung sind die desaströsen Zustände innerhalb der Schulen: Lehrermangel, Unterrichtsausfall, Leistungsdruck, minderwertige Bildungsqualität, fehlende Inklusion und scheinbar unkontrolliertes andauerndes Mobbing. Diese Entwicklungen zeigen deutlich, dass wir es in Deutschland mit einem bildungspolitischen Problem und einem gesellschaftlichen Erscheinungsbild zu tun haben, das nicht auf dem Rücken der jungen Menschen und deren Eltern ausgetragen werden darf. Der Bundesverband Natürlich Lernen e.V. setzt sich seit über 20 Jahren für das Recht junger Menschen ein, sich selbstbestimmt zu bilden.

„Mama, ich würde gerne auf dem Mond leben, denn da gibt es keine Schule“, Anton, 9 Jahre

„Ich würde lieber sterben als wieder in die Schule zu gehen“, Frieda, 13 Jahre

„Die Schule ist ein Zwinger – Sie zwingt mich dahin zu müssen, obwohl ich es nicht will“ Felix, 7 Jahre


Der Wille dieser jungen Menschen wird jedoch aufgrund der strengen, um nicht zu sagen menschenverachtenden und falschen, Auslegung der Schulpflicht von Verwaltungsbehörden und Gerichten übergangen, die Familien werden finanziell bestraft und/oder ihnen wird mit dem Entzug des Sorgerechts gedroht. Statt die individuell von den jungen Menschen gewählten Bildungswege anzuerkennen und zeitgemäße Möglichkeiten zu schaffen, werden den jungen Menschen Verhaltensauffälligkeiten und „Schulangst“ diagnostiziert oder ihnen Schulverweigerung oder Faulheit vorgeworfen. Die Grundrechte junger Menschen werden durch die Umsetzung der Schulpflicht missachtet. Die betroffenen Familien müssen sich teilweise sogar den Vorwürfen der Kindeswohlgefährdung stellen und um ihr Sorgerecht bangen. Bereits die Möglichkeit außerschulischer Bildungwege in anderen europäischen und außereuropäischen Ländern spricht jedoch gegen eine generelle Gefährdung des Kindeswohls. Junge Menschen, die gegen ihren Willen zum Schulbesuch gezwungen werden, erleben Diskriminierung, Adultismus und Benachteiligung.

Das grundrechtlich geschützte Recht auf Selbstbestimmung und das Streben nach Autonomie der jungen Menschen wird teilweise als Ungehorsam/Verhaltensauffälligkeit wahrgenommen oder sogar als psychische Krankheit eingeordnet. Es stellt einen nicht akzeptablen Zustand dar, dass Mütter und Väter kriminalisiert werden, die lediglich die Rechte und den Willen ihrer Töchter und Söhne respektieren und sie in ihrer Persönlichkeit achten.

 

Bildung unter Zwang ist mit der Würde des Menschen nicht vereinbar.

Und dies vor allem dann nicht, wenn Bildung innerhalb der verpflichtenden Schule nicht mehr erwartungsgemäß hochwertig und allumfassend für jeden gleichermaßen angemessen umgesetzt werden kann. Bildung ist ein hohes Gut, das wir durch eine Etablierung pluraler Bildungsmöglichkeiten qualitativ verbessern und zeitgemäß gestalten müssen. Dazu gehört es auch, außerschulische Bildungsmöglichkeiten zu verwirklichen. Dies macht vor allem dort Sinn, wo junge Menschen und deren Eltern Verantwortung für ihren eigenen Bildungsprozess übernehmen möchten und können, wenn das schulische Bildungsangebot den jungen Menschen nicht erreichen kann. Familien und junge Menschen dafür zu bestrafen, dass diese sich vielfältig frei und außerschulisch bilden und von ihren Bildungsrechten Gebrauch machen, sollte in einer modernen, demokratischen Gesellschaft keine Anwendung finden dürfen.

Der BVNL e.V. möchte Möglichkeiten aufzeigen, wie Selbstbestimmte Bildung und natürliches Lernen parallel zum bestehenden Schulsystem funktionieren können. Er setzt sich für eine gleichwertige und gleichberechtigte gesellschaftliche und politische Haltung jungen Menschen gegenüber ein. Es geht uns unmittelbar um die jungen Menschen selbst, um deren Bildungsentscheidungen, die Wahrnehmung ihrer Persönlichkeiten als Subjekte und die Umsetzung ihrer Rechte. Die Realisierung von freiheitlichen Grundrechten junger Menschen schließt Manipulation, Indoktrination, körperliche und psychische Gewalt und Entwürdigung in jeder Hinsicht aus. Die freie Wahl der Bildungsform ist für die jungen Menschen ein zentraler Bestandteil demokratischer Prozesse.


Die Vision eines dynamischen pluralistischen Bildungssystems

Der BVNL e.V. setzt sich auf Basis der freiheitlich-demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland dafür ein, dass jeder Mensch seinen eigenen Bildungsweg frei wählen darf. Junge Menschen sind als vollwertige Menschen mit gleichen Grund- und Menschenrechten anzusehen (siehe z.B.: Leitlinien des Bayerischen Bildungs- und Erziehungsplans). Die Selbstbestimmte Bildung außerhalb von Schulen könnte, neben den freien und den staatlichen Schulen, die dritte Säule eines dynamischen pluralistischen Bildungssystems sein, das jedem Menschen sein Recht auf lebenslange Bildung garantiert. Der BVNL e.V. vertritt die Auffassung, dass ein junger Mensch in einem vielschichtigen Umfeld aufwachsen, teilhaben, agieren und so von Anfang an gelebte Demokratie, Selbstwirksamkeit und Selbstbestimmung am eigenen Leib erfahren sollte. Dafür braucht es eine von Inklusion geprägte Gesellschaft, in der jeder Mensch ganz natürlich dazugehört und seinen gewünschten Bildungsprozess aktiv gestalten darf. Die Wahl der Bildungsform ist ein unabdingbarer Bestandteil einer Demokratie. Festgehalten ist dies unter anderem in der UN-Resolution 60/251 „Menschenrechtsrat“ vom 15. März 2006 und im Artikel 13 des UN-Sozialpakts.


Ist diese Vision außerschulischer Bildungsformen utopisch?

In den allermeisten Staaten dieser Welt gibt es legale Bildungsformen fernab des verpflichtenden Schulbesuchs. Hier leben und lernen viele Menschen jeden Alters durch verschiedene Bildungssettings. Heranwachsende lernen mit Begeisterung und aus eigenem Antrieb. Sie entdecken auf Grund ihres eigenen Interesses, aus eigener Neugier, auf ihre eigene Art, nach eigener Geschwindigkeit, an den von ihnen selbst gewählten Orten und mit selbst gewählten Partnern ihre Umwelt und entwickeln dabei ihre fachlichen und sozialen Kompetenzen. Unsere Vision ist nicht utopisch, sie ist mit ganz wenigen Ausnahmen in allen Ländern dieser Welt gelungener Alltag.


Wie steht es um die zu erlernenden und sozialen Kompetenzen?

Langjährige Erfahrungen und zahlreiche wissenschaftliche Studien in diesen Staaten zeigen, dass diese natürliche Art der Bildung ohne Zwangsausübung und ohne Schulbesuch gelingt. Junge Menschen entwickeln beste fachliche und soziale Kompetenzen. Vor allem eine umfassende Allgemeinbildung, praxisbezogenes Wissen, Eigeninitiative und Eigenverantwortung können hier herausgestellt werden.


Und wie sieht die Realität in
Deutschland aus?

Mittels der sogenannten Schulpflicht, die in allen deutschen Bundesländern als Schulzwang ausformuliert und umgesetzt wird, werden junge Menschen überwiegend als Objekte behandelt und nicht als Subjekte anerkannt. Es wird sich über ihren eigenen Willen, ihr Selbstbestimmungsrecht, ihre Vorstellungen und ihre freiheitlichen Rechte immer noch in einer von Adultismus geprägten Weise hinweggesetzt, ohne ihnen ihre Rechte vollumfänglich zu gewähren. Einigen jungen Menschen ergeht es im schulischen Kontext zunehmend schlecht und ihre individuellen Bildungsansprüche können innerhalb der Bildungsinstitution Schule nicht umgesetzt werden. Immer mehr junge Menschen möchten sich außerschulisch bilden.

Junge Menschen, die sich selbstbestimmt und frei bilden wollen, berufen sich u.a. auf das Grundgesetz (Art. 1 GG und Art 2 GG), das Bürgerliche Gesetzbuch (§1631 BGB, Recht auf gewaltfreie Erziehung), auf Internationale Konventionen zum Schutz der Rechte von Kindern und auf die Menschenrechte (Artikel 13 des UN-Sozialpakts und EU Charta der Grundrechte der Europäischen Union Artikel 14 – Recht auf Bildung). Folgend ein Auszug der Rechte, die ein pluralistisches Bildungssystem ermöglichen und Bildung unter Zwang ausschließen:

Artikel 1 Grundgesetz

  1. Die Würde des Menschen ist unantastbar

Artikel 2 Grundgesetz

  1. Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.
  1. Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich.

Art 3 Grundgesetz

  1. Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.

§1631 BGB Recht auf gewaltfreie Erziehung

  1. Das Kind hat ein Recht auf Pflege und Erziehung unter Ausschluss von Gewalt, körperlichen Bestrafungen, seelischen Verletzungen und anderen entwürdigenden Maßnahmen.

Artikel 13 des UN-Sozialpakts:

  1. Die Vertragsstaaten erkennen das Recht eines jeden auf Bildung an. Sie stimmen überein, dass die Bildung auf die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und des Bewusstseins ihrer Würde gerichtet sein und die Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten stärken muss.

Was ist zu tun?

Es ist sicherzustellen, dass junge Menschen, die sich außerschulisch bilden, sowie deren Familien nicht kriminalisiert und in ihren Rechten eingeschränkt und bestraft, sondern stattdessen hinsichtlich ihrer individuellen Wahl des Bildungswegs auch von staatlicher Seite unterstützt werden.

Möglichkeiten der Unterstützung von staatlicher Seite wären beispielsweise:

  • Demokratische Prozesse anzustoßen, die eine außerschulische Bildung ermöglichen.

  • Ins Schulgesetz auch außerschulische bzw. informelle Bildungsmöglichkeiten aufzunehmen.

  • Streichung der Absätze zur Schulpflicht/des Schulzwangs aus den Schulgesetzen

  • Aufklärung der Jugendämter, Schulbehörden und Richter

  • Entkriminalisierung intakter und beziehungsstabiler Familien

  • Etablierung eines pluralistischen und zeitgemäßen Bildungssystems mit Legalisierung außerschulischer Bildungsmöglichkeiten wie zum Beispiel in Dänemark, Großbritannien und Irland.

  • Bericht des Sonderberichterstatters für das Recht auf Bildung, Vernor Muñoz anlässlich seines Deutschlandbesuchs hinsichtlich der Umsetzung der UN-RESOLUTION 60/251 vom 13. – 21. Februar 2006, Punkt 62 und 107:

    Punkt 62: „Nach den vorliegenden Informationen könnte es sein, dass in manchen Bundesländern Bildung ausschließlich als “Schulbesuch” verstanden wird. Auch wenn der Sonderberichterstatter ein Verfechter der unentgeltlichen und obligatorischen öffentlichen Schule ist, muss daran erinnert werden, dass Bildung nicht auf “school attendance” reduziert werden kann und stets auf das Wohl des Kindes ausgerichtet sein muss. Alternativen wie Fernunterricht und “homeschooling” sind mögliche Optionen, die unter gewissen Umständen, die außergewöhnlich sein müssen, in Betracht kommen können, insbesondere wenn man berücksichtigt, dass nach Artikel 13 des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte Eltern das Recht zukommt, die angemessene Bildung für ihre Kinder zu bestimmen. Die Förderung und Stärkung des öffentlichen und staatlich finanzierten Bildungssystems darf nicht dazu führen, Modelle ohne physische Präsenz im Schulgebäude anzuprangern. In diesem Sinne wurden dem Sonderberichterstatter Klagen über Drohungen mit dem Entzug des elterlichen Sorgerechts zur Kenntnis gebracht, weil Kinder in “homeschooling”-Modellen unterrichtet werden.“

    Punkt 107: „Es sollen alle notwendigen Maßnahmen ergriffen werden, damit das sogenannte “homeschooling” vom Staat ordnungsgemäß überwacht und das Recht der Väter und Mütter gewährleistet wird, diese Schulform unter Berücksichtigung des Wohles des Kindes weiterzuentwickeln, wenn dies notwendig oder angemessen erscheint.“

Der BVNL e.V. steht bereits in Kontakt mit politischen Akteuren und Parteien z.B. in Berlin und Bayern. Andere Bundesländer folgen. Bisher wurden die Belange der organisierten Familien und deren betroffene Kinder, die im Übrigen deutschlandweit in die Tausende gehen und damit eine zu berücksichtigende Öffentlichkeit darstellen, ignoriert.

Junge Menschen die sich frei bilden möchten, sind bereits eine nicht mehr zu ignorierende Minderheit in Deutschland, deren Anliegen Gehör finden muss.

Anlässlich des Internationalen Tages der Bildungsfreiheit am 15. September möchten wir all denjenigen Familien und jungen Menschen Gehör verschaffen, die sich für Bildungsfreiheit einsetzen. Dieser Tag ist auch der internationale Tag der Demokratie. Demokratie ermöglicht Partizipation, Selbstbestimmung und Verantwortung, Chancengerechtigkeit, Meinungsfreiheit und Vielfalt. Dasselbe fordern wir ebenso für unser Bildungssystem und für junge Menschen.

Wir freuen uns über eine faire, neutrale und zeitgemäße Berichterstattung zu der Etablierung pluraler Bildungsmöglichkeiten und der Entkriminalisierung junger Menschen und deren Familien, die sich frei bilden möchten.

Sie sehen im Anhang eine Literaturliste, welche wir Ihnen und Ihren Kolleginnen und Kollegen ans Herz legen, um sich mit alternativen Bildungsformen, informellem Lernen und selbstbestimmter Bildung auseinanderzusetzen. Es freut uns, wenn diese Literaturliste zum Austausch über unser Anliegen anregt.

Mit freundlichen Grüßen


Kristin Lehmann und Randy Röhlich

Vorstand
Lernen ist Leben! Bundesverband Natürlich Lernen e.V.

Literaturempfehlungen:

  • Olivier Keller, Denn mein Leben ist Lernen – Wie Kinder aus eigenem Antrieb die Welt erforschen, 1999 & Neuauflage 2023
  • Matthias Kern, Selbstbestimmte und selbstorganisierte Bildung versus Schulpflicht, 2014

  • Matthias Kern, Selbstbestimmte Bildungswege als Kindeswohlgefährdung?,2018

  • Ron Miller, Creating Learning Communities: Models, Resources, and New Ways of Thinking
  • About Teaching and Learning, 2000
  • Günther Dohmen, Das informelle Lernen – Die internationale Erschließung einer bisher vernachlässigten Grundform menschlichen Lernens für das lebenslange Lernen aller, Bundesministerium für Bildung und Forschung, Bonn, 2001 | https://ams-forschungsnetzwerk.at/downloadpub/das_informelle_lernen.pdf
  • Thomas Schirrmacher. Bildungspflicht statt Schulzwang, 2005
  • Stefanie Mohsennia, Schulfrei: Lernen ohne Grenzen, 2004
  • Tony Jeffs und Mark K. Smith, Informal Education: Conversation, Democracy and Learning, 2005
  • Jan Edel, Schulfreie Bildung, Über die Vernachlässigung schulfreier Bildungskonzepte inDeutschland, 2007
  • Mark Webster, Personalised Learning. 2008
  • Anke Caspar-Jürgens, Lernen ist Leben – Die Familienschule: Wie Schule sein könnte, wenn das Lernen frei wäre, 2012
  • Hüther, Gerald & Hauser, Jedes Kind ist hochbegabt, 2014
  • Clara Bellar, Being and Becoming, DVD OmU, 2014 | http://www.etreetdevenir.com
  • Peter Gray, Befreit Lernen – Wie Lernen in Freiheit spielend gelingt, 2015
  • Alan Thomas & Harriet Pattison, Informelles Lernen – Wie Kinder zu Hause lernen, 2016
  • Franz Reimer, Schulpflicht für alle – Zweck oder Mittel? Der verfassungsrechtliche Rahmen für schulische Bildung und Chancen(un)gleichheit vor und nach der Pandemie, 2021 | https://www.pedocs.de/volltexte/2022/23882/pdf/DDS_2021_4_Reimer_Schulpflicht_fuer_alle.pdf
  • https://www.klemm-oelschlaeger.de/Klinkigt-Stern-Versuche-zur-Verteidigung-der-Freiheit-Diskussionen-zur-Bildungsrepublik
  • http://homeschooling-forschung.de/Material/Buchinfo%20Spiegler%20HE%20in%20D.pdf